Der Teppich

(eine wahre Geschichte)
  

„Er ist zu dunkel“, sagte sie. „Wer ist zu dunkel?“ „Der Teppich! Das Muster ist viel zu kräftig. Und richtig heruntergekommen sieht er aus.“
„Wie du weißt, ist er ein Erbstück“, entgegnete ich. „Und heruntergekommen darf er ruhig sein. Er ist wesentlich älter als wir.“

Sie schob mir ein Reklameblatt herüber, auf dem in riesigen Lettern stand „Erzwungener Ausverkauf!“, „Alles total billiger!“, „Tausend echte Teppiche!“, „Nur noch heute!“. „Was hältst du von dem da?“, fragte sie, und zeigte auf die knapp briefmarkengroße Abbildung eines Herati in ausgewaschenen Rottönen für nicht weniger als achthundert Euro. Ich nickte ergeben.

Zwei Stunden später befanden wir uns auf der empfohlenen Umleitung zu einer Umgehungsstraße der gefürchteten Autobahn Drei, die ich gewählt hatte, um die gefürchteten Staus zu umfahren, die auf diesem Streckenabschnitt stets auf Schnäppchenjäger lauern, die sich von großblättrigen Werbeanzeigen in entlegene Einkaufszentren locken lassen. Unerklärlicherweise hatten ein paar Tausend anderer Teppichliebhaber die gleiche Idee, daher kamen wir nur im Schritttempo voran.

Praktischerweise gehören meine Gattin und ich zu den wenigen Exemplaren des homo automobilis, denen die Evolution bereits einen siebten Sinn zum Aufspüren entlegener Teppichgeschäfte spendiert hat. Instinktsicher erreichten wir als einzige das Ziel, eine in Liquidation begriffene, kolossale Möbel-Betonburg, und genossen den Luxus eines überdachten, kostenlosen Parkplatzes, wenngleich unter Verlust unserer Dachantenne.

„Schau, alles ist herabgesetzt!“ jubelte meine geschäftstüchtige Hälfte, und hatte, ehe ich an den eigentlichen Zweck unseres Besuches mahnen konnte, bereits ein paar Dutzend Heimverschönerungserzeugnisse an sich gerafft, die sie, vor Aufregung schwer schnaufend, mit sich durch den Laden schleppte.

Insolvente Möbel-Betonburgen sind faszinierend. Ihre Weitläufigkeit steht im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur Verkäuferdichte, was dem Besucher die Möglichkeit gibt, ungestört durch lästige Ansprachen, die schier unglaubliche Vielzahl ambitionierter, holzgewordener Gedanken zu bewundern, die den Gehirnen junger Möbeldesigner entsteigen. Die Teppichabteilung hatte man ins Souterrain verbannt.

Wenige Stunden später standen wir in einem Teppich-Orient von der Größe eines Fußballfeldes, auf dem sich Berge von Teppichen verschiedenster Größe auf pygmäenhohen Stapeln türmten, kleine Gassen freilassend, auf denen sich wieselflinke, orientalische Verkäufer bewegten, welche die Teppiche unablässig umschichteten, von uns aber keine Notiz zu nehmen schienen. Wir wandten uns also an einen distinguierten Brillenträger, offensichtlich ihren Aufseher, der uns beflissen fragte, in welcher Preiskategorie wir denn einzukaufen gedächten.

Ein wenig beschämt antworteten wir: „Zwischen fünf- und achthundert Euro - Sie haben doch?“, und präsentierten das schützende Werbeblatt. Der Geschäftsführer räusperte seine Augenbrauen und winkte mit unterkühltem Eifer einem Untergebenen. Herbei wieselte ein Männchen, offenbar indischer Abstammung, in einem viel zu großen Anzug, dessen Ärmel eben mal die Fingerspitzen hervorschauen ließen, die es unablässig bewegte.

„Die Herrschaften möchten einen Teppich für achthundert Euro“, schnarrte der Aufseher herablassend und wandte sich lukrativeren Dingen zu. „Da wird die Auswahl aber schon kleiner“, bemerkte das Männlein, entblößte einen Goldzahn und wackelte geschäftig mit dem Kopf, während es auf einen Stapel wildgemusterter Bodenbeläge in grellen Farben zusteuerte.

„Nein, die sind mir zu kräftig. Ich möchte etwas Pastelliges!“, sagte meine geschmackssichere Gattin entschieden und zeigte auf den briefmarkengroßen Herati: „So etwas in der Art!“ Der Goldzahn ignorierte ihren Einwand und zerrte einen ausgewaschenen, roten Teppich hervor, den er mit den Worten pries: „Schirwan, echter pakistanischer Schirwan aus reiner Schurwolle! Nicht die nachgeknüpfte indische Ware! Und ganz billig! Hat vorher Achttausend gekostet. Kann ich Ihnen aber für Fünfzehnhundert lassen.“ „Fünfzehnhundert sprengt unser Budget“, bemerkte ich trocken und musterte unseren Verkäufer, der erwartungsvoll von einem Bein aufs andere trat. „Was ist mit dem Herati?“ „Herati haben wir nicht mehr“, bedauerte er und zuckte so heftig mit den Schultern, dass das übergroße Sakko bedenklich Falten warf und zwei behaarte, mit goldenen Ketten verzierte Handgelenke freigab.

„Gut, dann zeigen Sie uns etwas anderes, aber bitte in unserer Preisklasse!“, forderte ich streng. „Wie Sie wünschen, folgen Sie mir!“, sagte das pakistanische Männchen verdrießlich und setzte sich zu einem anderen Stapel in Bewegung, der gerade von zwei Hilfsarbeitern der untersten Kaste umgeschichtet wurde, die es ungeduldig zur Seite winkte. „Hier, ein blauer, persischer Keschan, zwei mal drei Meter, fünfhunderttausend Knoten, für sechzehnhundert Euro, ein persischer Sarough, dreihunderttausend Knoten, ein türkischer Kelim, je zwölfhundert Euro, und ah - ein besonderes Stück - ein echter Ghom aus Seide, fein geknüpft, der Vater aller Gebetsteppiche, einskommazwei mal einskommaacht Meter, zweitausend Euro, da müssen Sie zuschlagen!“ Seine Stimme überschlug sich.

„Die sind alle zu teuer. Und zu klein!“, empörte sich meine teppichkundige Gefährtin. „Zweimeterfünfzig mal dreifünfzig mindestens! Sie haben doch die Angebote in der Werbung. Die können doch nicht schon alle ausverkauft sein! Oder sollen wir wieder gehen?“

„Aber nicht in dieser Größe!“, rief unser persischer Führer verzweifelt, und sein Mund formte das „ö“ so lange und anklagend, das mir einen Moment bange wurde, er könnte den Teppichträgern befehlen, uns beide zu packen und hinaus zu werfen. „In dieser Größe habe ich ...“ Plötzlich stutzte er und rieb dabei die Wange an der gepolsterten Sakkoschulter: „In dieser Größe habe ich noch ...“ Dann erklomm er blitzschnell einen hohen Teppichstapel und wühlte mit beiden Händen in den Teppich-Ecken, wie unser Hund, wenn er ein Blumenbeet umgräbt. Schließlich förderte er ein dezent gemustertes Exemplar in pastelligen Blau- und Beigetönen zutage.

„Ein Täbris!“, rief er verzückt, „ein persischer Täbris! Der Letzte, den wir noch haben. Der war mal achttausend Euro. Jetzt könnte ich ihn für –“, er näherte seinen Mund meinem Ohr und flüsterte heiser, als sei er gerade im Begriff, seine Ehefrau samt dem Erstgeborenen für eine Flasche Raki zu verkaufen, „vielleicht für tausend Euro lassen. Ich muss den Geschäftsführer fragen.“

„Sind tausend Euro nicht zu viel?“, zog ich meine Schatzmeisterin zu Rate. Doch die antwortete nicht. Ihre Augen waren weit aufgerissen und auf ihrem Gesicht lag jenes entzückte, beinahe blödsinnige Lächeln des Verlangens, das ich zuletzt gesehen hatte, als sich mich vor vielen Jahren kaufte. Und nun würde sie diesen Teppich kaufen.

Das Derwisch-Männchen hüpfte triumphierend auf seinem Stapel. „Dürfen wir mal probefliegen?“, scherzte ich schal. Der pakistanische Perser-Inder schaute irritiert, entblößte aber schließlich einen weiteren seiner Goldzähne.

Kurz darauf befanden wir uns, um tausend Euro leichter, auf dem Heimweg. Eine ganze Armee von Teppichträgern hatte uns beim Einladen geholfen und dabei versehentlich fast die Schatzmeisterin mit eingewickelt. In letzter Sekunde konnte ich mein Veto einlegen und die erschöpfte aber glückliche Täbris-Besitzerin auf den Beifahrersitz platzieren.

Der Rückweg führte über die empfohlene Umleitung zu einer Umgehungsstraße der gefürchteten Autobahn Drei, die ich gewählt hatte, um die gefürchteten Staus zu umfahren, die auf diesem Streckenabschnitt stets auf erfolgreiche Schnäppchenjäger lauern, die mit ihrer Beute aus entlegenen Einkaufszentren zurück ins Stadtzentrum wollen. Dummerweise fanden sich ein paar Tausend andere Teppichliebhaber ein, die nicht das Glück gehabt hatten, rechtzeitig ans Ziel zu gelangen und nun enttäuscht im Schritttempo mit uns nach Hause rollten.

Wir wohnen in der vierten Etage. Alle Perserteppiche von mindestens Zweifünfzig mal Dreiachtzig sind schwer. Beide Prämissen, führen logischerweise zu dem Schluss, dass man mindestens zwei kleine, drahtige Teppichträger benötigt, um einen Täbris dieser Größe zu seinem Bestimmungsort zu transportieren. Meine Schatzträgerin hat keine Ahnung von Logik, dafür aber um so mehr praktische Lebenserfahrung. Sie befahl: „Du bist kräftig genug. Los jetzt!“

Also stolperte ich los, die zweifünfzig lange und nullvierzig dicke Rolle präzise um ihren Schwerpunkt geschultert, wobei die beiden im rechten Winkel zu meiner Körperachse überstehenden Teppichhälften für eine gleichmäßige Fliehkraft sorgten. Geleitet von den präzisen Direktiven meiner logistischen Hälfte, die sie aus der relativen Sicherheit höherer Stockwerke herunterbrüllte, gelang es mir in einem Arbeitsgang, Geländer und Treppenhauswände gründlich vom Staub zu reinigen, die vertrockneten Topfpflanzen auf der zweiten und dritten Etage zu entsorgen sowie die nicht mehr ganz aktuelle Geburtstagsdekoration unserer Nachbarskinder.

Wenige Stunden später war der alte Teppich im Keller, der neue Teppich ausgebreitet und die Möbel wieder an ihrem Platz. Die Teppichmeisterin lag erschöpft auf dem Sofa, während ich hingebungsvoll die letzten Fransen kämmte. „Wie findest Du es?“, fragte sie. Ich schwieg und versuchte, zwischen all den Blümchen, Schnörkeln und Ornamenten ein paar unserer Möbel wiederzufinden, die dort hingehören. „Ich finde unsere Möbel nicht mehr“, klagte ich schließlich, und nach langer Pause sagte sie „Du hast recht.“ Und fügte hinzu: „Wir müssen ihn zurückgeben!“

Wenig später befanden wir uns auf der empfohlenen Umleitung zu einer Umgehungsstraße der gefürchteten Autobahn Drei, die ich gewählt hatte, um die gefürchteten Staus zu umfahren, die auf diesem Streckenabschnitt gern auf Umtauschkrämer lauern, die ihre ungeliebten Perserteppiche in entlegene Einkaufszentren zurückbringen. Unerklärlicherweise hatten ein paar Tausend andere Umtauschkrämer den gleichen Wunsch, daher kamen wir nur im Schritttempo voran.

Der Aufseher empfing uns mit eisiger Miene. „Wie stellen Sie sich das vor?“; „wenn da jeder käme“; „grundsätzlich nicht möglich“; „ein anderer Teppich vielleicht“; „nichts als Kosten“; „wenn alle Kunden wie Sie...“. Ich entledigte mich unseres Teppichs, brach ihm das Nasenbein, entschuldigte mich dafür beim Kassierer, der mir ungefragt die gesamte Barschaft aushändigte und verabschiedete uns von den Pygmäen, die plötzlich eine unerwartete Herzlichkeit zeigten und zum Abschied winkten.

Wenig später befanden wir uns auf der empfohlenen Umleitung zu einer Umgehungsstraße der gefürchteten Autobahn Drei, die ich gewählt hatte, um die gefürchteten Staus zu umfahren, die auf diesem Streckenabschnitt gern auf ehemalige Teppichbesitzer lauern, die mit wieder aufgefüllten Portemonnaies zurück ins Stadtzentrum wollen. Seltsamerweise war die Strecke frei.

„Soll ich den alten Teppich wieder legen?“

Nein, es ist viel schöner ohne. Und“, fügte sie triumphierend hinzu, „du wirst nicht mehr darüber stolpern, wenn du betrunken bist.“ Ich nickte stumm.


© Humberto Brentano, 2004 - Alle Rechte vorbehalten (siehe Copyright).