Am achten September

(eine Kurzgeschichte)
  

Am achten September machte ich mich gegen Mittag auf, das Nachbardorf zu erreichen. Kein Einheimischer würde etwas Derartiges tun, schon gar nicht zu Fuß, schon gar nicht zur heißesten Zeit des Tages. Doch ich war ein Fremder, geübt im Wandern und an die Hitze gewöhnt. Mein kleiner Rucksack enthielt einen Wasservorrat und zum Schutz gegen die Sonne trug ich ein Baumwolltuch, das im Nacken zu einem Knoten gebunden war.

Unter „Nachbardorf“ darf man sich keine Entfernung vorstellen, wie sie hierzulande üblich ist. Vielmehr liegen die Dörfer weit verstreut, vor allem im trockenen Norden der Insel, wo man außerhalb bewohnter Siedlungen oft stundenlang keinen Menschen trifft. Was ich zu erreichen trachtete, und von vorangegangenen Besuchen kannte, war ein beschaulicher Weiler, nichts wirklich Besonderes, aber mit den landestypischen, weiß getünchten Häusern, einer kleinen, meist geschlossenen Kirche und einem Dorfplatz im Schatten mächtiger Platanen. Um dorthin zu gelangen, hatte ich die Wahl zwischen staubigen Serpentinen, die sich in endlosen Windungen steil bergan schrauben und einem kürzeren, geländigen Pfad, der mehr landschaftliche Abwechselung versprach und anfangs durch kleine Pinienwäldchen führt. Diesen wählte ich.

Nach Verlassen der Küstenstraße kam ich zunächst zügig voran und hatte nach etwa einer Stunde die erste Hügelkette erreicht. Hier, auf der baumlosen Kuppe, wurden die Zeichen des Pfades spärlicher: Jene großen Gesteinsbrocken, die mit roten Feld­mar­kierungen hin und wieder die Richtung wiesen, waren nun selten und schwer zu erkennen. Schließlich blieben sie ganz aus. Von Ginster und Disteln überwuchert, nur dem geübten Auge erkennbar, wand sich der Pfad hinab zur Talsohle und gleich wieder hinauf zur nächsten Kuppe, die nahe schien und doch um ein Merkliches höher lag. Eine Ewigkeit später hatte ich sie erklettert.

Es rührte sich kein Wind. Vor Hitze flirrend, untermalt vom eintönigen Zirpen der Grillen breitete sich die vom Sommer verbrannte Landschaft aus. Ich setzte meinen Rucksack ab und trank einen Schluck Wasser. Schweiß lief über meine Lider und brannte in den Augen, als ich nach Zeichen des Weges suchte. Keineswegs sicher setzte ich den Marsch fort. Um so mehr freute ich mich, als ich, ungewöhnlich für diese Tageszeit, in der Ferne eine Gestalt erblickte. Es schien ein Bauer mit Sense zu sein, auf jeden Fall ortskundig, zu Fuß in die gleiche Richtung, vielleicht ein Bewohner des nicht mehr fernen Dorfes. So stolperte ich voran, auf Auskunft hoffend.

Doch so sehr ich meine müden Beine anspornte, es wollte mir nicht gelingen, ihn einzuholen. Mal schien der Bauer fast in Rufweite, dann wieder hatte sich sein Vorsprung fast verdoppelt, aller Anstrengung zum Hohn. Mühelos schien er auszuschreiten, rastlos, ohne sich ein einziges Mal umzublicken, während seine Sense in der Sonne blinkte. Meine Erschöpfung wuchs. Mehr als einmal verlor ich das Gleichgewicht, erklomm einen steilen Hügel mit Händen und Füßen, folgte der Gestalt wieder hinunter ins Tal, immer weiter, immer aufs Neue, bis ich nach mehreren Stunden und verschiedenen Richtungswechseln völlig die Orientierung verlor.

Langsam ging mein Wasservorrat zur Neige. Von Durst gequält, staubig, mit blutenden Händen und zerstochen von Disteln setzte ich mich auf einen großen Stein und trank den letzten Schluck. Minutenlang saß ich dort, ohne dass der Bauer aus meinem Gesichtskreis verschwand. Er blieb aber nicht etwa stehen, sondern bewegte sich dem Augenschein nach weiter zielstrebig voran, ohne sich merklich von mir zu entfernen. „So sieht vermutlich eine Fata Morgana aus“, dachte ich, erhob mich mühsam und stolperte weiter.

Es war schon später Nachmittag, als ich in der Ferne eine kleine Kapelle bemerkte, auf die mein unbekannter Führer zusteuerte. Beflügelt von der Hoffnung, dort neben Schatten auch einen Brunnen mit Trinkwasser zu finden, folgte ich ihm so rasch ich konnte und tatsächlich schmolz sein Vorsprung, je näher wir kamen. Als er die Kapelle betrat, hätte ich ihn rufen können, doch ein unbestimmtes Gefühl hielt mich davon ab. Kurz darauf hatte auch ich die kurze Treppe mit dem schlichten Holzportal erreicht, drückte die Klinke und betrat, einen Gruß auf den Lippen, den unverschlossenen Raum. Er war leer.

Erschrocken und sprachlos blieb ich stehen, während hinter mir die Pforte ins Schloss fiel und die erbarmungslose Sonne aussperrte. Die plötzliche Kühle dieses Schattenreiches ließ mich frösteln. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das Halbdunkel und ich stellte fest, dass der Kirchenraum viel größer war, als es außen den Anschein hatte. Die Kapelle war älter als alle, die ich bisher gesehen hatte. Weiße Tücher und prachtvolle Ikonen schmückten Wände und Altar, wo ein vergoldeter Weihrauchschwenker Duft verbreitete, als hätte man ihn gerade erst befüllt. Die Deckenfresken zeigten Szenen der Genesis und des jüngsten Gerichts. In einer von flackernden Öllämpchen spärlich beleuchteten Nische entdeckte ich eine quadratische Platte aus Messing. Sie maß etwa vierzig Zentimeter, war in den Boden eingelassen und offenbar wesentlich jüngeren Datums als der Rest der Kapelle. Ich trat näher und übersetzte mit Mühe die Inschrift:

„ZUM GEDENKEN...“
„GEBOREN AM...“
„GESTORBEN AM ACHTEN SEPTEMBER...“

Darüber ein Name. Es war mein eigener.


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