An eine tote Dichterin

für Sappho(1)
 

Hoch am Fels, in leichter Bluse,
Klettert Platons zehnte Muse,
Um sich selbst ins Meer zu kippen
Von den schroffen, spitzen Klippen.

Klein von Wuchs, mit dunkler Haut -
Pháon war nicht sehr erbaut.
Und so konnt' sie diesen Knaben
Nicht zum Bettgefährten haben.

Damals leitete sie grad'
So ein Mädchen-Pensionat,
Wo die Töchter bess'rer Kreise
Lernen Lied und Sangesweise.

Wer soll nun die Dichtkunst lehren,
Mit der Oden Glut betören?
Wärst Du bloß dabei geblieben,
Nur von Frau zu Frau zu lieben!

      

 

 

 (1) Sappho, die große griechische Dichterin, lebte um 600 v.Chr. in Mytilene auf Lesbos, wo sie junge Mädchen um sich scharte, die im Kult der Aphrodite und der Musen erzogen wurden. Ihre leidenschaftlichen Verse haben zahlreiche Dichter beeinflusst, vom Altertum bis in die Neuzeit (Horaz, Catull, später Kloppstock und Hölderlin). Plato bezeichnete sie gar als zehnte Muse. Ob ihre in Gedichten ausgedrückte erotische Neigung zum gleichen Geschlecht tatsächlich praktiziert wurde, ist historisch nicht belegt, und wurde ihr posthum ebenso angedichtet, wie der Freitod aus verschmähter Liebe zu dem Jüngling Phaon (eine Tragödie von Grillparzer).

 
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